Online-Gschichtl Nr. 100

Pannonisches "Negerdorf" und Ökosiedlung par excellence

Zum Jubiläum des 100. Online-Gschichtls steht mit der Mannersdorfer Werksiedlung der ehem. Perlmooser Zementfabrik diesmal ein wichtiges Beispiel der österreichischen Nachkriegsarchitektur im Fokus. Beim Bau im Jahr 1952 als „grobe Verunstaltung“ geschmäht, war die von Architekt Roland Rainer errichtete Siedlung – wie Ava Pelnöcker und Helga Kusolitsch in zwei Teilen berichten – sowohl beliebte Wohnadresse als auch Anziehungspunkt für architekturinteressiertes Publikum.

 

Bis heute ist der Ortsteil unter dem ehemaligen Spottnamen „Negerdorf“ bekannt, auf dessen ungewohnt flachen Dächern, wie man sich erzählt, die Fortschrittsgegner als Ausdruck ihrer Missbilligung einst ihre Notdurft verrichtet haben sollen. Ganz anders in der überregionalen Wahrnehmung. Als prominentes Beispiel für den Wiederaufbau zierte die Werksiedlung das Cover der Monatsschrift „DER AUFBAU“. Jahrzehnte später hat der weltberühmte Architekt Rainer selbst, auf Vermittlung von Karl Tschank, seine persönliche Widmung an die Mannerdorfer*innen darauf hinterlassen. Schließlich handelt es sich um das erste Bauvorhaben, das der junge Architekt (1910-2004) tatsächlich realisieren konnte, nachdem er sich u.a. als Verfasser der „Behausungsfrage“ 1947 schon theoretisch mit dem Wohnen auseinandergesetzt hatte. Wie sehr er davor auch unter den Nationalsozialisten tätig war, ist erst seit wenigen Jahren zum Thema geworden. Später erlangte er jedenfalls mit Großbauten wie der Wiener Stadthalle und dem ORF-Zentrum, Gartensiedlungen wie Puchenau bei Linz und stadtplanerischen Arbeiten internationale Bekanntheit.

Und viele seiner gelobten Architekturqualitäten sind in der Mannersdorfer Werksiedlung bereits angelegt. Rainer gilt als humanistischer Architekt, dem sowohl die Wohnqualität als auch jene Aspekte des Wohnbaus, die man heute sozial und nachhaltig nennt, am Herzen lagen. Sein verdichteter Flachbau ermöglicht, dass jede Familie über ein eigenes Haus samt Garten verfügt, aber dennoch ökonomisch mit dem Boden umgegangen wird und gemeinschaftlicher Nutzen im Vordergrund steht. Sozial ist auch die Bauherrin. Die damalige Perlmooser Zementfabrik hatte schon 1907 eine erste Arbeitersiedlung im Tiroler Häring erbaut. Im Laufe der Jahre wuchs der Bestand auf ca. 850 Wohneinheiten an verschiedenen Standorten, auch in Mannersdorf selbst war u.a. in der Zwischenkriegszeit ein Arbeiterwohnhaus am Hanfretzweg entstanden (Architekt Hubert Maresch). Anfang der 1950er-Jahre, als nach den Kriegszerstörungen noch immer große Wohnungsnot herrschte, und oft genug in minderer Qualität und historisierendem Stil gebaut wurde, wagte das Industrieunternehmen einen mutigen Schritt zum fortschrittlichen Bauen. Denn „höhere Produktivität und Leistungssteigerung“ – so der damalige Generaldirektor Dr. Vogt – seien nicht nur durch vermehrte Arbeit zu erreichen, auch soziale und psychische Faktoren – „die seelische Beschaffenheit des Arbeiters“, spielten eine Rolle.

Um diese Voraussetzung zu schaffen, wurde für Mannersdorf ein Wettbewerb für ca. 40 Häuser ausgeschrieben, eine Gruppe jüngerer Architekten eingeladen und ausgewählte Experten ins Preisgericht bestellt. Dass die Perlmooser AG dabei auch noch eine Menge sozialer und ökologischer Anforderungen stellte und später das fortschrittliche Vorhaben trotz heftigen Widerstands realisierte, zeugt von Weitblick.

Zweckmäßig, formschön und bauwirtschaftlich wohlüberlegt waren die einen Kriterien. Landschaft, Sonne, Wetter, Wind, Bodenökonomie und Naturnähe die anderen, die hier eine Ökosiedlung entstehen lassen sollten. Den Wettbewerb konnte Roland Rainer mit der gestaffelten Anordnung von eingeschossigen Reihenhäusern mit Wohn- und Küchengärten samt öffentlichem Grünraum für sich entscheiden. Der ursprüngliche Entwurf musste zwar wegen der Grundwasserverhältnisse auf 21 Häuser reduziert werden, die Entscheidung für die moderne Siedlung aber stand. Zwei Typen waren vertreten, 12 Häuser mit einer Wohnfläche von ca. 60 Quadratmeter, die Wohnzimmer, Kochnische, Elternschlafzimmer, Kinderzimmer, Bad und Waschküche, WC und Vorraum umfassten. Die 9 kleineren Häuser kamen auf knapp 50 Quadratmetern ohne Kinderzimmer aus. Allen gemeinsam waren großzügige Abstellräume und eine geschützte Terrasse im Freien, die zum Wohngarten auf der Sonnenseite überleitete. Obstbäume und Beerenhecken bestückten den Gemüsegarten hinterm Haus, der die vitaminreiche Selbstversorgung der Familien sicherstellte. Im Inneren war auf die Arbeitserleichterung der vornehmlich von der Hausfrau bewerkstelligten Hausarbeit größter Wert gelegt, die Ausstattung über dem damaligen Durchschnitt. In der zeitgenössischen Musterwohnung leuchtet der helle Schiffboden im Wohnzimmer, in den Nutzräumen liegt Terrazzo, hell und luftig wirken die ebenerdig angeordneten Wohnbereiche. Vom funktionalen Arbeitsplatz samt belüftetem Speisekasten und Geschirrspüle, über den Heißwasserspeicher bis zu Badewanne und Porzellanwaschbecken samt integriertem Waschkessel für die „kleine Wäsche“ (gemeinsame Waschküche gab’s obendrein) ‒ ungewohnter Luxus für die künftigen Bewohner*innen. Auch wenn der Kessel nur einmal pro Woche geheizt wurde, ein Familienmitglied nach dem anderen ins selbe Badewasser stieg und am Ende damit die Wäsche gewaschen wurde.

Woran die Realisierung aber trotz all dieser unbestreitbaren und doch sparsam kalkulierten Annehmlichkeiten zu scheitern drohte, war das ungewohnte äußere Erscheinungsbild der flach geneigten Dächer. Der Bürgermeister äußerte heftiges Missfallen über das architektonische „Versuchskaninchen“ und verweigerte zunächst die Baubewilligung unter Berufung auf die „Verunstaltung des Ortsbildes“ ‒ wohlgemerkt bei einer Lage am Ortsrand direkt neben der Fabrik versteckt hinterm Windschutzgürtel. Nur durch die Vermittlung des Gebietsbauamtes der Landesregierung und die Entschlossenheit der Perlmooser AG selbst konnte die Siedlung doch in geplanter Form umgesetzt werden.

 

Bei der Eröffnung am 28. Juni 1952 erstrahlten die Fassaden in leuchtenden Pastellfarben rosa, gelb grün und grau, akzentuiert durch die weiß gehaltenen Terrassen und grau geschlämmten Simse, Säulen und Sockel. Selbst Bürgermeister Pretsch konnte da seine Worte uneingeschränkter Anerkennung nicht zurückhalten. Am meisten freuten sich die jungen Familien, die ihr neues Heim beziehen durften. Bald wurde der erste „Negerdörfler“ geboren und im Planschbecken tobten die Wasserschlachten, aber das ist eine andere Geschichte. Beim nächsten Mal werden wir die Wasserrutsche von Wander Bertoni und das Gemeinschaftsleben im Grünen näher unter die Lupe nehmen! Hinreißende 50ies Damen kommen ins Bild! Weitere historische Fotos zum Leben in der Siedlung würden die Autorinnen gerne dokumentieren …


Foto 1: Die Anfangsjahre in der Siedlung: Franz Huber, Gusti, Herta, Grete und Willi Poschalko, 1954

(Familie Korn)

Foto 2: Cover von "Der Aufbau" mit Widmung von Roland Rainer (Archiv Karl Tschank)

Foto 3: Rutsche, Pergola und das ältere Arbeiterwohnhaus (Familie Korn)

Foto 4: Musterwohnung in "Der Aufbau", 1952 (Der Aufbau)

Foto 5: Wohnküche mit Herta Huber (Familie Korn)

Foto 6: Außengestaltung in "Der Aufbau", 1952 (Der Aufbau)

Foto 7: Küche der Familie Kopf in den 1970er-Jahren (Familie Kopf)

Foto 8: Zwei Bautypen wurden geplant (Der Aufbau)

Foto 9: Küche der Familie Kopf in den 1990er-Jahren (Familie Kopf)

Foto 10: Vor dem eigenen Heim (Familie Kopf)

Foto 11: Im Wohnzimmer, 1960er-Jahre (Familie Kopf)

Foto 12: Aufwachsen in der Siedlung (Familie Korn)